Veranstaltung mit Prof. Dr. Tim Engartner,
Dienstag, 7.3.2017, 19.30 Uhr, Hotel Klingelhöffer, 36304 Alsfeld, Hersfelder Straße47
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Marode Schulen und Krankenhäuser, explodierende Mieten in städtischen Ballungsräumen, steigende Preise für Wasser, Strom und Gas, geschlossene Filialen der Deutschen Post, »Verzögerungen im Betriebsablauf« bei der Deutschen Bahn, eine wachsende Zahl gebührenpflichtiger Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute – immer häufiger wird sicht- und spürbar, wie Privatisierungen den Staat und damit uns schwächen. Im (Irr-)Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machen, schüttelt »Vater Staat« immer mehr Aufgaben ab – wie ein Baum seine Blätter im Herbst. Gegründet wurde der »Staat im Ausverkauf« hierzulande 1983 mit der von Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufenen »geistig-moralischen Wende«. Inzwischen werden Märkte selbst dort geschaffen, wo es sie nie zuvor oder aber in längst vergessen geglaubten Zeiten gab.
Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Lufthansa, die Bundesanstalt für Flugsicherung, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn – sie gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Auch auf kommunaler Ebene greift die Entstaatlichung seit vielen Jahren Platz. Allerorten verkaufen Städte und Gemeinden ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei zwei von drei Haushalten wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen entsorgt – nahezu durchweg zu höheren Preisen. Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerken. Privatisiert werden neuerdings aber auch Armeen, Gewässer und Sparkassen – stets mit dem Versprechen, alle Bürger würden dadurch gewinnen und keiner etwas verlieren.
Dabei ist die im Kontext von Privatisierungen beliebte Metapher vom »Verkauf des Tafelsilbers« unzutreffend. Tafelsilber liegt unnütz im Schrank herum; staatliche Unternehmen verschaffen der Allgemeinheit jedoch laufende Einnahmen. So belegt die Historie des Bahn- und Postwesens, dass Staatsunternehmen durchaus profitabel arbeiten können. So ließ die Bundespost dem Staatshaushalt noch Ende der 1980er-Jahre einen Jahresüberschuss von mehr als fünf Milliarden D-Mark (2,6 Milliarden Euro) zufließen. Die viel beschworenen »Effizienzvorteile« der Privaten existieren nicht. Von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte durch Privatisierungen kann folglich keine Rede sein – jedenfalls dann nicht, wenn man auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung blickt. Mehr als 1,5 Mio. Arbeitsplätze sind in den letzten 20 Jahren durch Privatisierungen vernichtet worden.
Schon ein Blick auf die aus der Deutschen Bundespost hervorgegangene Deutsche Post AG lässt Zweifel an der allseits beschworenen Effizienz aufkommen. So wird der Bund bis 2076 ca. 500 Mrd. Euro Witwen-, Waisen- und sonstige Renten für die ehemaligen Beamten des »Gelben Riesen« zahlen. Der nunmehr weltweit größte Logistikkonzern wird somit trotz milliardenschwerer Gewinne mit derzeit rund acht Mrd. Euro pro Jahr subventioniert. Und während dem »schlanken« Staat das Wort geredet wird, beklagen wir die Schließung von Postfilialen, die Demontage von Briefkästen, die Ausdünnung der Zustellungsintervalle bei Privathaushalten und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse im Postsektor. Immer häufiger stellen Mini- und Midi-Jobber oder Kurz-, Zeit- und Leiharbeiter Briefe und Pakete zu.
Die aus der Privatisierung des zweiten großen Staatskonzerns – der Deutschen Bahn – erwachsenen Negativerscheinungen wie Lok-, Oberleitungs- und Triebfahrzeugschäden sowie damit verbundene Verspätungen von 8.000 Stunden pro Tag lassen nicht mehr nur die 1,8 Millionen Bahnpendler aufhorchen, die täglich in die Züge steigen. Neuerdings wünscht sich eine breite Mehrheit der Bevölkerung eine Bürger- statt eine Börsenbahn, die nicht jedes Jahr die Fahrpreise erhöht und die Fahrtakte immer weiter ausdünnt, sondern Deutschland flächendeckend mit Schienenverkehrsleistungen bedient.
Aber im Schatten der größten Wirtschaftskrise seit der Weltwirtschaftskrise 1929/32 ist Licht am Ende des Tunnels zu sehen: Galt die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen viele Jahre parteiübergreifend als »Patentrezept« zur Sanierung klammer öffentlicher Kassen, bildet sich seit geraumer Zeit insbesondere auf kommunaler Ebene wieder ein Bewusstsein für die Vorzüge der staatlichen Daseinsvorsorge heraus. So sind in Städten wie Freiburg und Dortmund die Kosten für die Gebäudereinigung nach der Rekommunalisierung massiv gesunken.
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er hat im Campus-Verlag ein Buch gleichen Titels veröffentlicht.